4/26/2008

Die ungeschriebenen Bücher der Kurden


Die ungeschriebenen Bücher der Kurden
Hilmi Abbas hält mündlich überlieferte Texte fest


Ein «Buch der Kurden» verspricht der Titel einer Neuerscheinung auf den ersten flüchtigen Blick. Das klingt angesichts der zerklüfteten kurdischen Literaturverhältnisse verlockend. Die Tücke liegt im kleinen Beiwort «ungeschrieben». An einige Aspekte einer Kultur des Ungeschriebenen kann am Beispiel dieser Publikation erinnert werden.


Mythen und Legenden, die das von Hilmi Abbas vorgelegte «Ungeschriebene Buch der Kurden» im Untertitel verspricht, sind in Kurdistan allgemein verbreitet, ihre Tradierung bildet einen wesentlichen Anteil der gelebten Kultur. Sie wurden durch mündliche Überlieferung am Leben erhalten, finden sich heute aber auch in den modernen Medien, in Buch und Film. Es gibt einen weitgehend ungehobenen Schatz an ungeschriebenen Büchern - und das vor allem deshalb, weil es den Kurden in der Türkei, im Irak, in Iran und Syrien unmöglich gemacht wurde, sie zu schreiben, zu verbreiten und zu lehren.


Für die Kurden in der Türkei beginnt das Problem schon auf der untersten Ebene des Bildungswesens: Kurdische Lehrer müssen kurdische Schüler von Anfang an in der türkischen Sprache unterrichten, bei strengem Verbot des Kurdischen. Die kurdische Sprache haben die Kinder zwar bis dahin gesprochen, aber im kemalistischen Bildungskonzept für einen türkischen Staat ist sie nicht existent. Wer sich dem nicht unterzieht, kippt schnell heraus aus dem System. Die neuerdings proklamierte «Kurdisch-Erlaubnis» für Privatschulen ändert an dieser Struktur prinzipiell nichts, wenn sie überhaupt einmal greift. Kurdische Kinder gelangen also sehr schnell ins Hintertreffen im schulischen Wettbewerb, und auch aus diesem Grund ist die Quote der Analphabeten im kurdischen Teil der Bevölkerung hoch. Ob nun gerade die mündliche Tradition der kurdischen Kultur diesem Bildungsproblem abhelfen kann, ist fraglich - die ungeschriebenen Lehrbücher dürften in der kurdischen Öffentlichkeit gefragter sein. Aber die alten Quellen sprudeln noch und sind derzeit unentbehrlich für das kulturelle Selbstbewusstsein.


Kurdisches Erbe - für deutsche Leser
Hilmi Abbas, Sohn eines Kurden und einer Österreicherin und seit 1947 in Schwaben ansässig, setzt auf diese orale Tradition, auf die Erzähler und die Kraft ihrer Sagen- und Mythenschätze. Die kurdische Sprache könnte allerdings ihr identitätsstiftendes Werk erst nach einer Rückübersetzung aus dem Deutschen tun. Die von Abbas selbst übersetzten und veröffentlichten Erzählungen habe er in seiner Kindheit am Van-See (heutige Osttürkei) auswendig gelernt. Ohne schriftliche Hilfsmittel, wie er betont, und in nahezu authentischer Version: «Die Erzähler haben immer wörtlich genau das weitergegeben, was sie gelernt haben.» In seiner Heimatregion sollen auch heute noch weitgehend ungebrochen übermittelte Mythen, Legenden und Märchen aus vorislamischer Zeit kursieren. Das nun vorliegende Buch von Abbas ist das letzte Glied einer Überlieferungskette und ein gewagter Medienwechsel, den die «Gilde der Erzähler» wahrscheinlich nicht begrüsst - der Vater hatte ihm die Übersetzung noch verboten.


Das Genre ist schwer, obgleich es sich dank hervorragender sprachlicher Betreuung leicht liest. Das Buch versammelt in 60 Abschnitte eingeteilte Gesänge, Berichte und Erzählungen, orientiert an einer zoroastrischen Schöpfungslehre. Sie handeln von einem «uralten heiligen Vater» und seinen dualistisch geprägten Schöpfungen des Lichts und der Finsternis, aus denen sich eine zusehends weltlich und körperlich werdende Kosmologie entwickelt; von einer mythischen Stammeswanderung ins heutige Kurdistan, von religiös-weltanschaulichen Konflikten zwischen Geist und Materie, von alten Kämpfen, Kriegs- und Heldenepen einer mythischen Vorzeit zwischen Bergwelt und Urstromtal. Diese Themen und Figuren scheinen aus sehr weiter Ferne herüberzukommen und sind weitgehend unbekannt, wie ihre Ursprünge auch. Zitiert werden kürzere Texte aus yezidischen Schriften, die anderen Passagen sind erstmalige mediale Übertragungen von Liedern und Erzählungen.


Anscheinend liegt hier eine esoterische Überlieferung vor, von der in den gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskursen wenig bekannt ist. Die hierzulande zugänglichen Publikationen zum kurdischen Erzählgut haben andere Themen und Inhalte - witzig-subversive und sprachspielerische Erzählungen oder klassische Romanzen, wie sie im Volk kursieren, etwa die von Mem und Zin. Ein Kurdologe und Religionswissenschafter fühlte sich bei einer der Figuren in Abbas' Mythologie an Firdausis poetisches Geschichtswerk «Schahnameh» (um 1000 n. u. Z.) erinnert. Dieser persische Hintergrund steht dem Anliegen des Autors sicherlich nicht entgegen - die dort verarbeiteten zoroastrischen Stoffe der Göttermythologie sind auch wieder älteren Ursprungs und berufen sich auf eben jenes mystische Reich der geschlossenen Überlieferungsketten. Abbas' Buch fehlt zwar die historische Komponente des «Schahnameh», sein Erzählstil ist aber durchaus getragen vom erhabenen Gestus des altpersischen Königsbuches und anderer Elitetraditionen.


Über die geschichtlichen Hintergründe der Überlieferung und die konkreten Quellen des Autors erfährt man leider zu wenig. Das liegt wohl wieder im Wesen der mündlichen Überlieferung, in diesem Fall einer herrschaftlichen. Es geht um die Tradierung von Hochkultur und ihre historische Begründung. Die Quellenlage ist dürftig, weshalb sich vieles hier auf die Glaubwürdigkeit und Authentizität der mündlichen Quellen stützen muss, und damit ist das entscheidende Medium die Sprache selbst. Abbas betrachtet das Medische als eine der Quellen des Kurdentums, die Einflüsse der Meder auf die alten zoroastrisch-iranischen Grossreiche wiederum als Indiz für eine grosse kurdische Vergangenheit. Diese könnte weit zurückreichen - vor den Medern (1000 v. u. Z.) wären da noch die Churriter (2400 v. u. Z.) zu nennen, denen die Kurden laut dem Vorwort des Verlags die tolerante Geisteshaltung verdanken könnten. Die Meder sind hier Kronzeugen einer ethnisch-historischen und kulturpolitischen Identitätsdebatte, die gängige Begründungen für eine Assimilierung der Kurden zurückweisen will: etwa die islamische («wir sind alle Muslime») oder die kemalistische Argumentation («wir sind alle Türken»), welche die besondere kulturelle Identität der Kurden negieren.


Unsicher - aber nicht unglaubwürdig
Bei der engagiert tätigen und gut informierten «Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie» in Berlin zeigt man sich skeptisch, was die notorische «Meder-These» betrifft - diese sei selbst schon ein Mythos. Schriftliche Zeugnisse haben die Meder nicht hinterlassen, was entsprechende Argumentationen zweifelhaft erscheinen lässt und den Anspruch der Wissenschaftlichkeit wenig befriedigt.


Wo es um Inhalte und ihre Echtheit geht, ist angesichts der unsicheren Quellenlage Vorsicht angebracht. Die Idee einer womöglich jahrtausendealten, ungebrochen tradierten und mündlichen Geheimüberlieferung von wie auch immer esoterischen Texten ist schwer nachvollziehbar. Dass es immer noch unbekanntes Terrain in diesem lebhaften Netzwerk mündlicher Diskurse gibt, liegt aber auf der Hand. Der türkische Schriftsteller Yasar Kemal spricht im Blick auf seine Heimat von einem «Land der Ablagerungen» und meint die historischen Schichten, in denen er selbst Einflüsse aus der Ilias, aus indischen Märchen oder aus der hethitischen Sprache entdeckt hat. Über die Einflüsse, denen die mündlich überlieferten Epen unterliegen, könne man nur Hypothesen aufstellen. Yasar Kemals künstlerische Aneignung der oralen Kultur spricht jedoch für eine dynamische Kraft dieses Erbes. Er war in seiner Jugend selbst Geschichtenerzähler auf den anatolischen Dörfern, als Autor ist er inzwischen wieder Quelle für den oralen Diskurs - seine Geschichten werden in Kaffeehäusern und auf den Dorfplätzen erzählt. Hilmi Abbas' Versuch, ein hochkulturelles Erbe zu bewahren, fehlt dieser Nahkontakt. Seine Texte müssten noch einmal reisen, nach Kurdistan, auf Kurdisch.


Vielleicht braucht eine entwickelte kurdische Öffentlichkeit ein Erbe, um kulturelles Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wer wen womit beerbt, muss diese Öffentlichkeit selbst bestimmen. Ob sie dazu kommt, ist eine Frage politischer Verhältnisse. Ein singuläres «ungeschriebenes Buch der Kurden» hat darauf leider noch wenig Einfluss. Es geht hier um die Mehrzahl und die Vielfalt - und vorab einmal wohl um die «ungeschriebenen» Lehrbücher.


Martin Zähringer
Hilmi Abbas: Das ungeschriebene Buch der Kurden. Mythen und Legenden. Diederichs im Heinrich-Hugendubel-Verlag, Kreuzlingen/München 2003. 296 S., Fr. 38.10.


19. September 2003, Neue Zürcher Zeitung

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