4/11/2008

DIE VIELFALT DER MODERNE


Die Vielfalt der Moderne: Ein Blick zurück auf die ersten Überlegungen zu den „multiple modernities“ [1]

Von Shmuel N. Eisenstadt*

Der Begriff der Modernisierung hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert. Der deutlichste Wandel betrifft vor allem die Frage, unter welchen Umständen sich moderne Institutionen herausbilden. Dieser Wandel führte schließlich zu einer neuen Begrifflichkeit, nämlich des Konzepts der „multiple modernities“, das die Vielfalt der Moderne in den Vordergrund rückte.[2] Vor diesem Hintergrund möchte ich an dieser Stelle Auszüge aus einem meiner frühen Texte zur Modernisierung, der mit The Basic Characteristics of Modernization überschrieben ist, erneut zur Diskussion stellen.[3]

Der Text erschien 1966 in meinem Buch mit dem Titel „Modernization, protest and change“ und gleich eingangs findet sich die zentrale Begriffsdefinition: „Historisch gesehen bezeichnet Modernisierung den Prozess der Entwicklung hin zu denjenigen sozialen, ökonomischen und politischen Systemen, die sich in Westeuropa und Nord-Amerika zwischen dem siebzehnten und neunzehnten Jahrhundert herausbildeten und anschließend in andere europäische Länder sowie nach Südamerika, Afrika und Asien verbreitet wurden. Moderne Gesellschaften entwickelten sich aus einer großen Vielfalt unterschiedlicher traditioneller, vormoderner Gesellschaften heraus.“[4]

Schon hier, wie auch in einigen anderen meiner noch früheren Texte, betonte ich die großen Unterschiede der Ausgangsposition. Damit wandte ich mich gegen die Sichtweisen einiger klassischer Modernisierungstheorien, wie zum Beispiel von Lerner, Inkeles und Parsons, [5] und setzte meine Überlegungen vor allem von der Theorie einer Konvergenz der Industriegesellschaften ab. Die Vielfalt vormoderner Gesellschaften zeigte sich aus meiner Sicht gerade auch in verschiedenen Traditionen, in denen diese unterschiedlichen Gesellschaften verwurzelt waren.

Und doch scheint mir heute, dass ich eben jene Vielfalt damals lediglich als inhärente Varianten des vorherrschenden westlichen Modells ansah. Letztlich ging ich implizit davon aus, dass die verschiedenen Dimensionen von Modernität, nämlich die strukturelle, institutionelle und kulturelle Dimension, einem Trend zur Angleichung gehorchen würden. Mit der Zeit wurde ich allerdings immer unzufriedener mit vielen dieser Annahmen. Diese Unzufriedenheit führte mich schließlich zur Entwicklung des Konzepts der „multiple modernities“. In diesem Begriff einer „Vielfalt der Moderne“ ist eine ganz bestimmte neue Sichtweise enthalten, die Moderne nunmehr als Kultur zu begreifen sucht.

Dieser Blick auf die Moderne impliziert, dass diese als eine sich neu herausbildende Form von Kultur zu sehen ist, analog etwa zur Entstehung und Verbreitung der Weltreligionen. In dieser Sichtweise besteht der Kern der Moderne in der Herausbildung und Entwicklung eines oder mehrerer Interpretationsmuster für die Welt, die eine grundlegende ontologische Vision, einen bestimmten sozialen „Vorstellungsraum“ (imaginaire) darstellen, um hier Cornelius Castoriadis´ Terminologie anzuwenden.[6] Bjorn Wittrock spricht in diesem Zusammenhang von „epistemologischen Vorannahmen“.[7] Es geht also um ein spezifisches kulturelles Programm, das mit der Herausbildung einer Reihe institutioneller Neubildungen einhergeht, die in ihrem Kern einerseits von einer völlig neuartigen „Öffnung“, andererseits aber auch von Unsicherheit geprägt sind.

Diese Kultur der Moderne, bzw. dieses spezifische kulturelle Programm mit seinen Konsequenzen auf der Ebene der Institutionen kristallisierte sich in Westeuropa heraus und verbreitete sich anschließend in anderen Teilen Europas, auf den zwei amerikanischen Kontinenten und später in der ganzen Welt. Damit war der Anstoß für sich kontinuierlich verändernde kulturelle und institutionelle Muster gegeben, die ihrerseits wiederum nicht zu einer gemeinsamen homogenen Moderne führten, sondern vielmehr, wie oben angedeutet, zu der besagten Vielfalt der Moderne.

Der Blick auf die Moderne als spezifische Kultur, als spezifisches kulturelles Programm, macht es notwendig, analytisch zwischen der strukturellen und institutionellen Dimension einerseits (und dabei vor allem den Trends zur strukturellen Differenzierung) und der kulturellen Dimension andererseits zu unterscheiden.

Natürlich war die Herausbildung des kulturellen Programms der Moderne, der spezifischen Interpretationsweise der Welt und der Versuche, diese in Institutionen zu verankern, historisch eng mit den jeweiligen strukturell-institutionellen Dimensionen moderner Gesellschaften verbunden. Hier spielte vor allem die Auflösung älterer, relativ geschlossener sozialer Gebilde eine Rolle, genauso wie das Schaffen neuer Räume, in denen sich Institutionen etablieren konnten. Es ist richtig, dass man von einer engen Wahlverwandtschaft zwischen der Entstehung von Offenheit und der Entwicklung von sozialen Institutionen im Rahmen des kulturellen Programms der Moderne sprechen kann. Gleichwohl kann auf der anderen Seite entgegen den Annahmen vieler Modernisierungstheoretiker – und dies gilt genauso für liberale wie Parsons oder Inkeles [8] als auch für marxistische Theoretiker wie zum Beispiel Hoogvelt [9] – kein notwendiger Zusammenhang zwischen irgendeiner bestimmten Form von Institutionen der Moderne und den verschiedenen Elementen des modernen kulturellen Programms festgestellt werden, seien es im wirtschaftlichen Bereich nun kapitalistische oder „gelenkte“ sozialistische Ökonomien oder im politischen Bereich pluralistische, autoritäre oder totalitäre Regime.

Diese unterschiedlichen Aspekte der Moderne beziehungsweise Dimensionen moderner Gesellschaften – ihre strukturelle, institutionelle und kulturelle Dimension – sind analytisch voneinander trennbar. Ihr Zusammenwirken findet je nach spezifischem Kontext jeweils in unterschiedlicher Art und Weise vor dem Hintergrund der gegebenen historischen Konstellation statt. So entwickelten sich zum Beispiel in der Tokugawa-Zeit in Japan viele institutionelle, vor allem ökonomische Grundlagen, die vielleicht zu einer modernen kapitalistischen Marktwirtschaft hätten führen können, ohne dass damit jedoch die Entwicklung eines spezifisch modernen kulturellen Programms einhergegangen wäre. [10] Erst unter dem Einfluss des Westens entwickelte sich schließlich ein solches Programm, wenn auch wiederum ein sehr spezifisches. Wie das Beispiel illustriert, entstand die Dynamik von Gesellschaften gerade in der Verflechtung von jeweils spezifischen institutionellen Konstellationen mit verschiedenen Dimensionen bzw. Elementen des kulturellen Programms der Moderne mitsamt der darin enthaltenen Antinomien.

Festzuhalten bleibt also, dass die unterschiedlichen kulturellen Programme und institutionellen Muster der Moderne sich nicht, wie in einigen der früheren Modernisierungsstudien dargestellt, auf der Grundlage allgemeiner Evolutionschancen herausbildeten, die potentiell jeder menschlichen Gesellschaften zu eigen sind. Ebenso wenig beruhten die kulturellen Programme der Moderne, wie in der frühen Kritik dieser Studien geäußert, auf der natürlichen Entfaltung der jeweiligen spezifischen Traditionen und der Neuverortung in wechselnden internationalen Kontexten. Sie wurden vielmehr durch eine kontinuierliche Interaktion von verschiedenen Faktoren geprägt, von denen der allgemeinste die unterschiedlichen Machtkonstellationen, zum Beispiel den Wettstreit der Eliten und deren Verbindung zu breiteren Bevölkerungsschichten betreffen. Jeweils unterschiedliche ontologische Konzepte und politische Ideologien, die in den verschiedenen Gesellschaften vorherrschten, bildeten den Rahmen für den entstehenden Diskurs um die Moderne, an dem verschiedene politisch Aktive und Intellektuelle beteiligt waren, nicht zuletzt vor allem aber die sozialen Bewegungen, die innerhalb dieses Prozesses der Neuinterpretation und der Herausbildung neuer institutioneller Muster die Hauptakteure waren.

In Zusammenhang mit diesen Erwägungen ergibt sich auch die Frage nach der besonderen Stellung Europas. Anstatt auf die Europäische Moderne als auf das einzig gültige Modell zu schauen und damit die historische Erfahrung Europas sehr zu verkürzen, muss die historische Erfahrung Europas zwar als das erste, aber auch als ein sehr spezifisches Muster der Moderne angesehen werden, das keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. Zu den spezifischen Kennzeichen der europäischen Moderne kann gezählt werden, dass das moderne Europa durch beständige Umbildungs- und Neubildungsprozesse seiner Zentren und seiner nationalen Gemeinschaften geprägt wurde. Als weiteres Charakteristikum ist das Spannungsfeld zwischen Autorität und Egalität zu nennen, dessen Rahmen sowohl für die Herausbildung politischer Ordnungen von wesentlicher Bedeutung war, wie auch für die Schaffung kollektiver Identitäten im ursprünglichen und sozialen Rahmen. Darüber hinaus waren schließlich überaus wirkungsmächtige utopische Zukunftsvisionen für die europäische Moderne von Bedeutung. [11] Insofern kommt es also darauf an, die internen und interkulturellen Rahmen des Begriffs der Moderne letztlich immer wieder in ihrer jeweiligen Besonderheit zu bestimmen.
*Shmuel N. Eisenstadt, geboren 1923, ist seit 1959 Professor für Soziologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Zahlreiche Gastprofessuren an amerikanischen und europäischen Universitäten.

[1] Essay zur Quelle Nr. 2.8, Shmuel N. Eisenstadt: The Basic Characteristics of Modernization (1966). Essay aus dem Englischen von Florian Kemmelmeier.
[2] Anm. des Übers.: Der Begriff der „multiple modernities“ ist nicht ohne weiteres ins Deutsche zu übersetzen. Am ehesten ist er mit „Pluralität der Moderne“ bzw. „Vielfalt der Moderne“ wiederzugeben, vgl. Eisenstadt, Shmuel N., Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000.
[3] Vgl. Quelle Nr. 2.8; mit Auszügen aus dem einleitenden Kapitel in: Eisenstadt, Shmuel N., Modernization, protest and change, Eaglewood Cliffs 1966.
[4] Ebd., S.1; das Zitat wird hier auf Deutsch wiedergegeben [Anm. des Übers.].
[5] Lerner, Daniel, The passing of traditional society: Modernizing the Middle East, Glencoe 1958; Inkeles, Alex; Smith, David H., Becoming modern. Individual change in six developing countries, Cambridge/Mass. 1974; Parsons, Talcott, The evolution of societies, New Jersey 1977.
[6] Vgl. Castoriadis, Cornelius, L’imaginaire social de la société, Paris 1975; dt.: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt am Main 1984.
[7] Vgl. Wittrock, Bjorn, Modernity. One, none or many? European origins and modernity as a global condition, in: Eisenstadt, Shmuel N. (Hg.), Multiple modernities, New Brunswick 2002, S. 31-60.
[8] Vgl. Parsons und Inkeles; Smith (beide wie Anm. 5).
[9] Vgl. Hoogvelt, Ankie M.M., The sociology of developing societies, London 1976.
[10] Collins, Randall, An Asian Route to Capitalism. Religious Economy and the Origins of Self-Transforming Growth in Japan, in: American Sociological Review 62 (1997), S. 843-865.
[11] Vgl. Eisenstadt, Shmuel N., European civilizations in a comparative perspective, Oslo 1987.

Literaturhinweise:
Eisenstadt, Shmuel N., Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000
Ders. (Hg.), Multiple modernities, New Brunswick 2002
Inkeles, Alex; Smith, David H., Becoming modern. Individual change in six developing countries, Cambridge/Mass. 1974
Lerner, Daniel, The passing of traditional society. Modernizing the Middle East, Glencoe 1958
Parsons, Talcott, The evolution of societies, New Jersey 1977
Zapf, Wolfgang (Hg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main 1991
Zugehörige Quelle:Eisenstadt, Shmuel N.: The Basic Characteristics of Modernization (1966)
Zitationsempfehlung:Eisenstadt, Shmuel N.: Die Vielfalt der Moderne: Ein Blick zurück auf die ersten Überlegungen zu den "Multiple Modernities". In: Themenportal Europäische Geschichte (2006), URL: http://www.europa.clio-online.de/2006/Article=113.

Hiç yorum yok: